Radsport mit Kindern und Jugendlichen
Jugendbewegung

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Den eigenen Nachwuchs für den Radsport zu begeistern – davon träumen viele "Rennradeltern". Wie das klappt und was man den Kids zumuten kann, erfahren Sie hier.

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Foto: HSG Uni Greifswald/Antje Vogelgesang

Noch ist wenig los an der Europakreuzung unweit der Greifswalder Innenstadt. Kein Wunder: Es ist Samstagmorgen. Wochenende. Zeit, auszu schlafen. Doch die Ruhe wird jäh gestört: Wie auf Kommando trudeln plötzlich aus allen Himmelsrichtungen die blau-rot-weißen Radtrikots der HSG Uni Greifswald ein. Gleich ist es halb zehn – Treffpunkt für das Nachwuchstraining der U11. Alle da? Dann kann’s losgehen. Trainer Philipp Vogelgesang gibt letzte Anweisungen, kurz darauf setzt sich die Gruppe in Bewegung, raus aus der Hansestadt. Etwa 30 Kilometer stehen heute auf dem Programm.

HSG Uni Greifswald/Antje Vogelgesang
Vielseitige radsportliche Ausbildung: Der Greifswalder Nachwuchs trainiert regelmäßig auch auf der Radrennbahn in Rostock.

Vogelgesang war früher selbst als Lizenzfahrer aktiv, seit über zehn Jahren kümmert er sich um den Greifswalder Radsport-Nachwuchs – Ehefrau Antje leitet die Geschicke des Vereins. Bei so viel Radsportleidenschaft unter einem Dach kamen natürlich auch die beiden gemeinsamen Kinder schon früh mit schmalen Reifen in Berührung – und sind ebenfalls im Verein aktiv. "Unser Sohn Jonathan geht in die erste Klasse, da kann man noch nicht wirklich von Radsport sprechen. Unsere ältere Tochter Thea hingegen hat schon viele Sportarten ausprobiert – und vermutlich irgendwann festgestellt, dass sie beim Radsport mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen kann", schmunzelt er. Eine Konstellation, die sich viele Rennrad fahrende Eltern wünschen: die eigenen Kids für den Radsport zu begeistern und so den Sport mit gemeinsamer Familienzeit zu verbinden. Doch selbst bei besten Absichten lauern Fallstricke, über die Eltern stolpern können – vor allem, wenn die den eigenen Nachwuchs als vollwertige Trainingspartner begreifen.

Spielerischer Einstieg

"Viele ambitionierte Eltern gehen an den Kinder-Radsport so ran, wie sie es selbst kennen, und machen mit dem Nachwuchs Statistiken zu Kilometern oder auch schon Wattwerten auf", erzählt Dr. Konrad Smolinski, Diplom-Sportwissenschaftler, der in Sportpsychologie promoviert hat. "Das ist jedoch die absolut falsche Herangehensweise. Da hebe ich bei meiner Arbeit gegenüber Eltern und Trainern immer wieder den Zeigefinger." Auf keinen Fall dürfe man mit Kindern umgehen, als wären sie kleine Erwachsene. Der Experte empfiehlt vielmehr, den Radsport spielerisch zu vermitteln – vor allem zum Einstieg: "Kinder müssen die Vielseitigkeit des Radfahrens erkennen. BMX oder Mountainbike bieten diese spielerische Komponente – das Rennrad sollte erst an letzter Stelle kommen."

Heißt: Ab ins Gelände mit den Kids oder auch einfach mal einen Geschicklichkeitsparcours aus Trinkflaschen auf einem Parkplatz oder im Innenhof aufbauen – und die Kinder so vor kleine spielerische Herausforderungen stellen. Das macht Spaß, verbessert Fahrtechnik und Radbeherrschung – und trainiert Körper und Geist. Die Voraussetzungen dafür sind nicht immer optimal: Trainer, Ärzte und Psychologen stellen unisono fest, dass die körperliche Fitness bei Kindern in den vergangenen Jahren nachgelassen hat, auch weil der Schulsport immer weiter reduziert wurde – eine bedenkliche Entwicklung. "Wir müssen in den Vereinen auffangen, was im Sportunterricht verloren gegangen ist", kritisiert Philipp Vogelgesang. "Wenn Kinder im Alter von acht oder neun Jahren in den Verein kommen und auf Anhieb mehr als acht Klimmzüge schaffen, ist das die absolute Ausnahme."

HSG Uni Greifswald/Antje Vogelgesang
Trainer Philipp Vogelgesang betreut den Radsport-Nachwuchs der HSG Uni Greifswald.

Unsportlichkeit, Bewegungsmangel und Übergewicht sind inzwischen gesamtgesellschaftlich weit verbreitete Phänomene. Leben die Eltern Bewegungsfaulheit vor, kann dies dazu führen, dass auch ihre Kinder wenig Lust auf körperliche Anstrengung verspüren – geschweige denn auf eine anspruchsvolle Sportart wie Radfahren. Umgekehrt kann es aber auch abschreckend wirken, wenn Kinder bei den Eltern sehen, wie zeitintensiv und anstrengend eine Radausfahrt sein kann.

Was also tun, wenn Kinder nur schwer zum (Rad-)Sport zu motivieren sind? "Auf keinen Fall sollten Eltern Druck ausüben", warnt Sportwissenschaftler Smolinski. "Druck ist niemals gut, denn er schafft Angstzustände und Abneigung. Vielmehr müssen Eltern ihrer Vorbildfunktion gerecht werden und vorleben, was sie sich vom Kind wünschen. Ein Familienausflug ohne sportlichen Hintergedanken kann ein erster Schritt sein, die Begeisterung im Kind zu wecken." Zudem hilft es, Gleichaltrige auf die Tour mitzunehmen – beispielsweise Nachbarskinder oder Schulfreunde. "Kinder verspüren mehr Freude, wenn Personen dabei sind, die als angenehm empfunden werden", erklärt Smolinski.

Hanka Kupfernagel – achtfache Weltmeisterin, selbst Mutter und mehrfache Patentante – empfiehlt, die eigenen Kinder einfach mal zu einem Nachwuchsrennen mitzunehmen, am besten zu actiongeladenen Disziplinen wie Cyclocross oder Mountainbike: "Wenn Kinder sehen, wie Gleichaltrige Rennen fahren, wie gut sie ihr Rad beherrschen und wie viel Spaß sie haben, wollen sie das oft nachmachen und sind hoch motiviert." Auch der Familienausflug zur Tour de France, Deutschland Tour und Co. oder die Identifikation mit Idolen können die Radsportleidenschaft entfachen.

Behutsam steigern

Waren die Überzeugungsversuche beim Nachwuchs erfolgreich, gilt es das richtige Maß zu finden und die Kinder nicht durch zu hohe Umfänge oder Intensitäten zu überfordern – oder gar zu schädigen. "Gerade im Wachstum sind die Strukturen wie Knorpel, Knochen, Bänder, Sehnen und Muskeln sehr anfällig für Überlastungen, was Jahre später zu Entwicklungsstörungen und chronischen Schäden führen kann", erklärt Dr. Denis Biró, Verbandsarzt beim Bund Deutscher Radfahrer und Betreuer der Nachwuchsnationalmannschaften. "Außerdem droht durch zu viel Training bei einer nicht ausreichenden Ernährung ein Energiedefizit, was auf Dauer zu eingeschränktem Wachstum und einer gestörten Entwicklung führen kann."

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Die Tabelle zeigt einen idealtypischen, langfristigen Leistungsaufbau für Wettkämpfer - gemäß Bund Deutscher Radfahrer. Egal ob Nachwuchsrennfahrer oder jugendlicher Hobbysportler: Weniger geht immer, mehr sollte es nicht sein.

Ein grundsätzlicher medizinischer Check zu Beginn sei laut Biró zwar nicht notwendig, schließlich gehe es zunächst um spaßorientierten Gesundheitsssport. Aber: "Wenn sich das Kind später für den Leistungssport entscheidet und eine Rennlizenz lösen will, ist ein medizinisches Attest Pflicht. Auch eine tiefergehende sportmedizinische Untersuchung mit Ruhe- und Belastungs-EKG sowie ggf. ein Lungenfunktionstest können sinnvoll sein. So können Überlastungsschäden vermieden und ein internistischer sowie orthopädischer Erststatus erhoben werden – um etwa muskuloskelettale Defizite oder Fehlhaltungen frühzeitig zu erkennen und Erkrankungen auszuschließen."

Damit in den Vereinen im Idealfall nur alters- und entwicklungsgerechte Intensitäten und Umfänge trainiert werden, bieten der Bund Deutscher Radfahrer bzw. die Landesverbände Trainerausbildungen an. Philipp Vogelgesang aus Greifswald etwa ist lizenzierter A-Trainer. "Kinder, die erst später als Quereinsteiger zum Radsport finden, schaue ich mir genau an", erklärt er. "Im Zweifel fahren sie erst mal bei den Jüngeren mit. Erst wenn sie sich dort langweilen, kommen sie in die nächsthöhere Trainingsgruppe. Dort zunächst nur im Windschatten und später als vollwertiges Mitglied. Das kann man schon sehr gut steuern. Vor allem Kinder entwickeln sich unglaublich schnell weiter."

HSG Uni Greifswald/Antje Vogelgesang
Radsport verbindet: Beim Training treffen verschiedene Altersklassen aufeinander.

Zur Realität gehört jedoch, dass vor allem Rennrad fahrende Eltern zusätzlich zum Vereinstraining gern "Extraschichten" mit ihren Sprösslingen einlegen. Laut Vogelgesang ein schwer kontrollierbares Thema, das auf gegenseitigem Vertrauen basiert: "Als Trainer bin ich kein Erziehungsberechtigter. Natürlich sage ich den Eltern, dass unser Training genug ist – und nicht noch in der Freizeit zusätzlich trainiert werden muss. Aber ich weiß natürlich nie, ob die Eltern nicht trotzdem mit den Kindern Einheiten absolvieren."

Die Belastung behutsam, altersgerecht und abwechslungsreich zu steigern, verspricht langfristig den größten Leistungsfortschritt und hält das Feuer für den Radsport am Lodern, erklärt auch Verbandsarzt Denis Biró: "Der ausdauerorientierte Radsport hat sein Höchstleistungsalter ab Mitte 20, sodass es nicht nötig und sinnvoll ist, sich schon früh auf eine Disziplin zu spezialisieren. Eine breite sportliche Ausbildung ist langfristig meist auch erfolgreicher."

Dabeibleiben

Richtig vermittelt und ausgeübt, ist der Radsport also in vielerlei Hinsicht ideal für die körperliche und geistige Entwicklung: Kinder und Jugendliche bewegen sich nicht nur an der frischen Luft und treiben Sport – sie erleben Natur, lernen die Umgebung kennen und steigern ihre Orientierungsfähigkeit, sie werden selbstständiger, fokussieren sich auf Ziele und lernen, mit Erfolg und Misserfolg umzugehen – alles wichtige Erfahrungen, die auch in Schule, Alltag und später im Beruf von Bedeutung sind.

HSG Uni Greifswald/Antje Vogelgesang
Selbstständigkeit, Teamgeist, Disziplin: Der Radsport ist eine gute Schule fürs Leben - und macht Spaß.

Und wie kann man Kinder und Jugendliche "bei der Stange halten"? "Wenn Kinder die Lust an einer Sportart verlieren, dann ist das meist in negativen Assoziationen mit dem Sport begründet – sei es ein Sturz, Langeweile oder mangelnde Anerkennung", so Sportwissenschaftler Smolinski. "Kinder müssen den Sport emotional positiv empfinden. Ängste und Frustration sollten reduziert werden." Eine Aufgabe, die den Eltern und Trainern zukommt. Damit der Radsport positiv assoziiert wird, hilft es, den Kindern Freiräume einzugestehen, sich auszuprobieren – und auch mal etwas falsch zu machen. "Fehler und Misserfolge sind unglaublich wertvoll, denn sie bringen einen voran und ermöglichen einen neuen Blickwinkel auf Dinge. Das sollte in der Familie und im Verein unbedingt gelebt werden", fordert Smolinski. "Es ist ein Riesenproblem unserer Gesellschaft, dass Kinder einen Perfektionismusgedanken auferlegt bekommen."

Und wenn das Kind endgültig dem Radsport verfallen ist und den Sport ambitioniert und leistungsorientiert betreiben möchte? Philipp Vogelgesang rät: "Ich würde anregen, sich in der Region nach Vereinen und deren Schwerpunkten zu erkundigen. Dort, wo die Nachwuchsarbeit gezielt im Vordergrund steht, finden Kinder schnell Anschluss an Gleichaltrige – und bleiben dabei, weil soziale Kontakte und neue Freundschaften entstehen."

Auch das Samstagstraining in Greifswald ist mittlerweile beendet. Einige abschließende Worte von Trainer Philipp Vogelgesang, dann radeln erschöpfte, aber glückliche Kinder nach Hause. Vielleicht die nächste Generation im Radsport.

5 Tipps für Eltern

  1. Spaß, Spaß, Spaß Zwei Stunden flach Grundlage fahren? Fetzt nicht so! Fahrtenspiele, Geschicklichkeitsparcours oder Trail-Action mit demMTB schon eher. Und zwar bitte mit Gleichaltrigen, wenn möglich! Kinder lieben Abwechslung und kleine Wettkämpfe. Seien Sie kreativ!
  2. Kein Druck Ihre Kinder können nicht kompensieren, was Sie selbst (sportlich) womöglich nicht erreicht haben. Spielt Ihr Kind lieber Trompete, anstatt Fahrrad zu fahren? Akzeptieren Sie's! Fährt Ihr Nachwuchs gerne Rad, planen Sie Training und Ausflüge immer aus Sicht des Kindes, nicht aus Ihrer eigenen. Bremsen Sie zu ehrgeizige Kinder auch mal ein.
  3. Gesundheit geht vor Achten Sie auf altersgerechtes Training, ausreichende Ernährung und acht bis neun Stunden Schlaf pro Nacht. Kein Training bei Kraknheit, Erkältungssymptomen oder gar Fieber, sonst besteht die Gefahr einer Herzmuskelentzündung!
  4. Vorbild sein Ihr Kind soll sich im Straßenverkehr rücksichtsvoll bewegen und einen Helm tragen? Dann sollten Sie es genauso vorleben. So werden Verhaltensweisen schon früh verankert und als selbstverständlich antrainiert.
  5. Trainerschein machen Eine fundierte Ausbildung ist eine Option für engagierte Eltern und Ehrenamtliche. Einen ROADBIKE-Artikel mit Interview und Porträts von ehrenamtlichen Trainerinnen und Trainern finden Sie hier.
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Erscheinungsdatum 05.03.2024