Radsport & Social Media
Was macht eigentlich eine Rennrad-Influencerin?

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Rennradfahren ist längst auch ein Thema bei Instagram, Facebook & Co. Profis und Hobbysportler posten fleißig in den sozialen Netzwerken, manchem "Influencer" folgen Abertausende Menschen. Annäherung an ein Phänomen.

Was macht eigentlich eine Rennrad-Influencerin?
Foto: Alina Jäger/clippedinandfree

Alina Jäger zieht die Nase kraus und denkt nach. "Zwei Stunden brauche ich vermutlich schon für ein Posting", sagt die 26-Jährige, rechnet aber lieber noch mal nach. "Entwicklung einer Bildidee und einer Botschaft, die ich transportieren will. Fotoshooting und Bildbearbeitung. Texterstellung und Übersetzung ins Englische. Hochladen. Beantworten von Kommentaren und persönlichen Nachrichten." Sie blickt auf und lacht. "Wahrscheinlich sind es deutlich mehr als zwei Stunden pro Posting."

Mindestens sechs Stunden am Tag sei sie mit Social-Media-Aktivitäten beschäftigt, eher mehr. Und das sieben Tage pro Woche, 52 Wochen im Jahr. 186 000 Menschen folgen Alina Jägers Instagram-Account clippedinandfree. Das sind erheblich mehr Menschen, als in Großstädten wie Würzburg, Ulm oder Göttingen leben. 80 Prozent von Jägers Beiträgen drehen sich um das Thema Rennradfahren. Um Erlebnisse auf dem Rad. Um Reisen. Um Freundschaften. Um Gefühle. Nicht nur in langfristig verfügbaren Postings, auch in Storys – kurzen Videosequenzen, die nach 24 Stunden automatisch wieder verschwinden. Alina beim Radfahren. Alina bei der Kaffeepause. Alina mit (meist ebenfalls rennradfahrenden) Freundinnen und Freunden. Alina, die in die Kamera spricht und von ihrem Tag erzählt. Oder von ihrem Umzug nach Girona in eine Radsport-WG.

Alina Jäger/clippedinandfree
clippedinandfree: Über die Umwege Kampfsport, Fitnessstudio und Laufen kam Alina Jäger zum Rennradfahren – und teilt ihre Leidenschaft für Straße und Gravel seither auf Instagram. Die Fotografin und Texterin hat sich mit einer Kreativagentur selbstständig gemacht, seit kurzem lebt sie in Spanien – im Rennrad-Hotspot Girona.

Warum verfolgen so viele Menschen das Leben von jemandem, den sie gar nicht persönlich kennen? Die Gründe dafür sind vielfältig: In repräsentativen Umfragen geben Follower oft an, sich gut unterhalten zu fühlen, interessante Inhalte zu sehen oder Sympathie für die Person zu empfinden, der sie folgen. Es entsteht eine Bindung, die emotional und eng ist – ohne den Filter einer Redaktion oder Pressestelle, die eine Vorauswahl trifft.

Eine Daily Soap mit selbst gewählten Protagonisten. Die Influencerin als Freundin. Zentral sind Emotionen und Storytelling: "Ich will erfahren, wie es den Menschen geht, denen ich folge", versucht Alina Jäger ihre eigene Social-Media-Nutzung zu erklären, "und ich möchte meinen Horizont erweitern, Inspiration finden, etwa für Reisen oder Erlebnisse auf dem Rennrad." Ganz wichtig auch: der Aspekt Motivation. "Wenn ich sehe, was andere leisten, wie sie trainieren, pusht mich das auch."

Licht und Schatten

Schöne neue Social-Media-Welt? Nicht ganz, denn so unlogisch es klingen mag: Viele Menschen folgen Profilen auch aus negativen Beweggründen – Neid, Missgunst, Voyeurismus, Sexismus oder auch explizit die Ablehnung einer Person oder einer Ansicht. Soziale Netzwerke sind auch Orte erbitterter Auseinandersetzungen, Schauplätze für Mobbing und Hatespeech. Und sie sind mögliche Ursachen von Frustration, weil die Follower und Likes ausbleiben oder etwa Körperideale und Leistungen vorgelebt werden, denen man selbst womöglich nicht entspricht. Alina Jäger freut sich, in ihrem Rennradkontext kein Problem mit den negativen Auswüchsen von Social Media zu haben: "Ich erhalte vielleicht einoder zweimal pro Woche negative Rückmeldungen oder gar verletzende Zuschriften, 99 Prozent des Austauschs sind positiv."

Kritik an den sozialen Netzwerken gibt es aber auch aus einem anderen Grund: "Influencer sind eine ernstzunehmende Gefahr, da sie antiaufklärerisch agieren und ihre Follower manipulieren." Und mit Produkthinweisen zum Konsum animieren, schreiben die Journalisten und Wissenschaftler Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen in ihrem Buch "Influencer. Die Ideologie der Werbekörper". Wie funktioniert Radcomputer X, wie trägt sich Radbekleidung Y, was für Langzeiterfahrungen wurden damit gemacht? Auch in reichweitenstarken Rennrad-Profilen finden sich Produktplatzierungen. Influencer-Marketing, etwa seit 2007 ein Begriff, hat die Welt der Werbung revolutioniert. Schmitt und Nymoen zeigen auf, dass klassische Werbung oft passiv rezipiert und eher hin- als aufgenommen wird, während man sich aktiv dafür entscheidet, einen Social-Media-Account zu abonnieren, die Inhalte aufmerksam verfolgt und – trotz Kennzeichnungspflicht – mal mehr, mal weniger subtil mit Werbebotschaften penetriert wird. Der als Freund empfundene Social-Media-Star, der mit hoher Glaubwürdigkeit, kreativ und vielleicht sogar lustig und selbstironisch ein Produkt vorführt oder auch "nur" nutzt? Marketing-Experten frohlocken – und geben mittlerweile einen Großteil ihres Werbebudgets für Influencer statt für klassische Anzeigen oder TV-Spots aus. "Deutsche Marketer sind bereit, Top-Influencern bis zu 38 000 Euro pro Post zu bezahlen", zitieren Schmitt und Nymoen eine Studie aus dem Jahr 2019.

Oliver Emil Andersen
behindhandlebars: Vom Erfolg seines Projekts behindhandlebars war der Däne Oliver Emil Andersen selbst überrascht. Sein Studium finanzierte er durch den Verkauf von Merchandising-Artikeln – Kooperationen mit der Industrie geht er nur selten ein. Andersen lebt in Kopenhagen und arbeitet in Vollzeit in der Radsportbranche.

Rennradfahrerin Alina Jäger hat drei feste Verträge: mit dem Bekleidungshersteller Agu, der Radmarke Fara Cycling und dem Uhrenhersteller Breitling. Hinzu kommen Einzelaufträge. Mit dem Begriff Influencerin fremdelt sie aber. "Natürlich sagen das viele, und es ist auch okay. Ich würde mich selbst aber eher als Content Creator bezeichnen. Ich arbeite selbstständig als Fotografin und Texterin und mache supergerne Videos – alles mit einem hohen künstlerischen Anspruch. Und meine Partner nutzen die Inhalte, die ich produziere, auch anderweitig, zum Beispiel auf ihren Websites oder in Katalogen. So gesehen bin ich an der Schnittstelle zwischen reinem Influencer und Agentur."

Überhaupt gilt, wie immer im Leben: Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß – nicht nur "böse" Influencer, die mit kommerziellem Interesse ihre arglosen Follower manipulieren, sondern unzählige Grautöne dazwischen. Jonas Deichmann etwa, den Extremsportler, der erst kürzlich von seinem Triathlon um die Welt zurückgekehrt ist, würde wohl niemand als Influencer bezeichnen. Für den 34-Jährigen, dem 156 000 Menschen allein bei Instagram folgen, sind soziale Netzwerke dennoch von existenzieller Bedeutung: "Um meine Expeditionen finanzieren zu können und noch viele Jahre als Abenteurer unterwegs zu sein, bin ich auf Sponsoren angewiesen", erklärt er ROADBIKE, "mein Marktwert – oder der Wert für meine Sponsoren – hängt direkt mit meiner Reichweite zusammen." Deichmanns Lebensentwurf wäre ohne Facebook, YouTube und Co. nicht möglich: "Die Art, wie ich meine Expeditionen durchführe, lebt davon, dass ich meinen Followern die Möglichkeit gebe, mir möglichst direkt zu folgen, und sie an meinen Abenteuern teilhaben lasse. Es ist toll, dass so etwas möglich ist."

Stichwort Medienkompetenz

Auch viele Radprofis der Worldtour fungieren längst nicht mehr "nur" im Sattel als Werbeträger für ihre Sponsoren, sondern auch in der digitalen Welt – Peter Sagan etwa folgen 1,9 Millionen Menschen auf Instagram, Chris Froome (1,1 Millionen Follower) und Primoz Roglic (593 000 Follower) werben für Bekleidungsartikel, der deutsche Meister Maximilian Schachmann (58 400 Follower) für Uhren. Alle Genannten und viele weitere "Promis" nutzen ihre Bekanntheit und Reichweite aber auch, um auf Non-Profit-Organisationen oder sogar eigene gemeinnützige Stiftungen aufmerksam zu machen.

Markus Weinberg
jonas_deichmann: Mit dem Rennrad vom Nordkap bis Südafrika, von Alaska bis Feuerland oder gleich schwimmend, radfahrend und laufend einmal um die Welt – der gebürtige Stuttgarter Jonas Deichmann ist ein weltweit bekannter Extremsportler und Inhaber mehrerer Weltrekorde. Auf Social Media sind seine Fans live dabei.

Bei aller Vorsicht, die geboten ist, und im Wissen, dass ein Erfahrungsbericht in sozialen Medien nicht mit den Vergleichstests eines Prüfinstituts oder eines Fachmagazins gleichzusetzen ist, bleibt unbestreitbar, dass Influencer ihre Follower auch im positiven Sinne beeinflussen: "Liebe Nadine, danke für deinen Rennradcontent", heißt es etwa in einer von zahlreichen ähnlich lautenden Nachrichten, die Nadine Berneis, 2019 Miss Germany und begeisterte Rennradfahrerin mit über 53 000 Followern auf Instagram, stolz zeigt, "durch dich habe ich mich durchgerungen, auch mal aufs Rennrad zu steigen, und was soll ich sagen – es hat mega Spaß gemacht, und ich glaube, ich werde es öfters tun. Mein Freund versucht mich schon seit Jahren zu überreden, mit ihm zu fahren, ohne dich hätte ich’s, glaube ich, nie gemacht."

Oliver Emil Andersen wiederum hat mit seinem Instagram-Account behindhandlebars eine stetig wachsende Mitmach-Aktion geschaffen. Dem Rennradfahrer und Commuter aus Kopenhagen fiel eines Tages auf, "dass ich vieles in meiner Umgebung als selbstverständlich ansah und zu wenig wertschätzte. Ich schnappte mir mein Rad und fuhr ziellos durch die Gegend – und versuchte, mein Umfeld wieder mit Neugier und offenen Augen wahrzunehmen." Andersen begann, aus der immer gleichen Perspektive zu fotografieren: hinter dem Lenker, mit wechselnden Motiven aus dem urbanen Umfeld und der Natur – "ein Blick, den alle Fahrradfahrer kennen". Unter dem Hashtag #behindhandlebars schlossen sich Zehntausende Menschen weltweit an, posteten eigene Bilder und fühlten sich durch Andersens Philosophie inspiriert, wieder bewusster und langsamer durchs Leben zu gehen. Berneis und Andersen sind nur zwei von unzähligen Beispielen.

Carlotta Schönwald
nadine_berneis: Die gebürtige Dresdnerin ist Polizeibeamtin und Model. 2019 gewann sie den Titel der Miss Germany. Auf Social Media veröffentlicht Berneis oft Beiträge zum Thema Rennradfahren. Erklärtes Ziel: mehr Frauen für den Radsport zu begeistern. Berneis ist Botschafterin der Jedermann-Rennen der Deutschland-Tour.

Alina Jäger plant demnächst ein Bikepacking-Abenteuer quer durch die USA: Vier Wochen und 2300 Kilometer liegen dann vor ihr. Die Bilder und Videos werden viele ihrer Follower zum Träumen und vielleicht zum Nachahmen animieren. Im positiven Sinn beeinflussend war im vergangenen Jahr auch der Umgang mit dem schweren Unfall von Jägers Mitbewohnerin Imogen Cotter: Nachdem die ehemalige irische Straßenmeisterin beim Training frontal von einem unachtsam überholenden Auto erfasst worden war, zeigten zahlreiche Postings den emotionalen, aber auch optimistischen Umgang mit dem Geschehenen – ein starkes Plädoyer, sich von Schicksalsschlägen nicht unterkriegen zu lassen. Cotter befindet sich inzwischen auf dem Weg der Besserung.

So bleibt als Fazit dieser kleinen Annäherung an das Phänomen Social Media: Bei allen Schattenseiten bieten soziale Netzwerke, sofern medienkompetent, konstruktiv und höflich genutzt, ein riesiges Potenzial für menschliche Kreativität, gegenseitige Inspiration und positiven Austausch – selbstverständlich auch im Rennradkontext.

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Erscheinungsdatum 05.03.2024