Porträt Sofiane Sehili
Sofiane Sehili: Der Mann, der niemals schläft

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Der Franzose Sofiane Sehili zählt zu den erfolgreichsten Ultradistanz-Rennfahrern der Gravel-Szene. Porträt eines Extremsportlers.

Sofiane Sehili: Der Mann, der niemals schläft
Foto: privat

Der Kegetypass ist ein Paradies für Gravelbiker – und zugleich eine fast unüberwindbare Hürde aus Fels und Schotter. Bis auf 3800 Meter über dem Meer schraubt sich der knapp 20 Kilometer lange Anstieg im nördlichen Kirgisistan in die Höhe. Der Weg ist unbefestigt und kann aufgrund der extremen Steinschlaggefahr schnell unpassierbar werden. Hinzu kommen extremste Wetterbedingungen: Plötzlich auftretende Schneestürme gehören selbst im Sommer zur Tagesordnung, dazu gibt es oft starke Niederfälle, die den Bergpfad im Laufe der Zeit stark in Mitleidenschaft gezogen haben. Es ist deshalb ein guter Morgen für Sofiane Sehili, als er sich am 20. August 2021 aus seinem Schlafsack schält: Die Temperaturen sind zwar eisig, aber am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen, während die kirgisische Morgensonne die zerklüftete Bergwelt in warmes Licht taucht. Die Nacht hat der Franzose auf dem Betonboden eines verlassenen Hauses am Fuß des Berges verbracht, doch mit Tagesanbruch startet er die lange Kletterpartie zur Passschulter. Noch sind es 260 Kilometer bis ins Ziel des Silk Road Mountain Race. Der Kegety: eines der letzten großen Hindernisse auf dem Weg zu seinem bisher größten Sieg.

Jakub Kopecky
Sofiane Sehili zählt zu den bekanntesten Athleten im Gravel-Radsport. In den vergangenen vier Jahren triumphierte der 40-jährige Franzose bei fünf verschiedenen Ultradistanzrennen – allesamt größtenteils auf Schotter. Einer seiner größten Erfolge: der Sieg beim Silk Road Mountain Race 2021.

Sofiane Sehili ist einer der bekanntesten und zugleich erfolgreichsten UltracyclingRennfahrer dieser Tage. In den vergangenen Jahren hat der 40-Jährige aus Paris so gut wie jedes Rennen auf dem Podium beendet, bei dem er angetreten ist. Insbesondere Wettbewerbe mit extremen Distanzen sind seine Spezialität: 2020 gewann er das 1145 Kilometer lange Atlas Mountain Race in Marokko und das doppelt so lange French Divide. 2019 holte er sich die Siege beim 1650-Kilometer-Ritt Inca Divide in Peru und über die 1150 Kilometer beim Italy Divide. Und 2021 dominierte er gemeinsam mit dem Schweizer Adrien Liechti den "Two Volcano Sprint" – ein 1200-Kilometer-Abenteuer zwischen Ätna und Vesuv. "Bei einem Ultra-Radrennen gibt man jede Art von Komfort auf. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir in der Gesellschaft so viele Bequemlichkeiten genießen, hat das einen besonderen Reiz", sagt Sofiane, während sich ein Schmunzeln über sein wettergegerbtes Gesicht zieht. Was er damit meint, zeigt das Silk Road Mountain Race: Bei den 1800 Kilometern quer durch Kirgisistan sind die Teilnehmer komplett auf sich gestellt. Geschlafen wird in mitgeführten Zelten am Straßenrand, Hilfe von außen gibt es kaum.

DANIL USMANOV
Bei Ultradistanz-Rennen bringen die Sportler ihre Körper ans absolute Limit (oben). Ein Kennzeichen vieler Events ist die Austragung im "Self-supported-Modus": Die Teilnehmer müssen Pannen ohne fremde Hilfe beheben – wie hier beim Silk Road Mountain Race 2021.

"Self supported" nennt sich diese Art von Bikepacking-Rennen, die Sofiane so liebt. Tausende Kilometer gegen die Uhr, ohne helfende Hände, abgeschieden in der Natur – das Besondere an Sofianes Abenteuern sind allerdings nicht nur die extremen Rahmenbedingungen, sondern auch die Tatsache, dass er ein Spätberufener ist: Erst mit 28 entdeckt er seine Liebe zum Radfahren, als er sich auf einer Rucksackreise durch Asien für rund 100 US-Dollar spontan ein Fahrrad kauft und anschließend 7000 Kilometer durch den Südosten des Kontinents pedaliert. Es ist eine Erfahrung, die ihn nicht mehr loslässt: Wieder zurück in Paris, kauft er sich ein besseres Bike, nur um im nächsten Jahr erneut 8000 Kilometer durch Asien zu radeln. Spätestens jetzt ist Sofiane mit dem Fahrradvirus infiziert. Er kündigt seinen Job bei einem Kulturmagazin und beginnt, als Radkurier zu arbeiten. "Nach zwei Jahren fast ununterbrochenem Reisen konnte und wollte ich nicht mehr in ein Büro zurück. Und als Radkurier hatte ich die Möglichkeit, mit dem Geld zu verdienen, was mich erfüllt: Radfahren."

Jakub Kopecky
"Nach zwei Jahren fast ununterbrochenem Reisen konnte und wollte ich nicht mehr in ein Büro zurück", sagt Sofiane Sehili - irgendwie nachvollziehbar, wenn man Bilder sieht wie hier vom Gravelrennen Badlands in Andalusien.

Bald entdeckt Sofiane auch seine Liebe für den sportlichen Aspekt des Radfahrens: Im Vergleich mit anderen Kurieren ist er oft der Schnellere, zudem legt er immer weitere Distanzen zurück. 2014 fährt er auf eigene Faust das Great Divide, ein 4500 Kilometer langes Abenteuer durch die Rocky Mountains, von der kanadischen Grenze bis nach Mexiko. Die Reise begeistert ihn so sehr, dass er sich zwei Jahre später zur auf der gleichen Strecke stattfindenden Tour Divide anmeldet, einem der härtesten Ultradistanz-Rennen überhaupt. 16 Tage ist Sofiane unterwegs und wird als Debütant direkt Dritter – ein unglaublicher Erfolg. "Das Besondere war, dass ich total unbedarft angetreten bin. Ich hatte keine Strategie, und ich hatte das falsche Equipment." Sofiane grinst, während er sich erinnert. "Die Tour fand im Sommer statt. Trotzdem gab es einen Schneesturm – das war ohne warme Kleidung suboptimal."

Lian van Leeuwen
Mit 40 Jahren befindet sich Sehili am Höhepunkt seiner Karriere. Für ihn es ist die Mischung aus Einsamkeit, atemberaubenden Landschaften und sportlicher Herausforderung, die den Reiz von Ultra-GravelRennen ausmacht – wie hier beim Badlands-Gravel 2021.

Sein Erfolgsrezept schon damals: eine Mischung aus Geschwindigkeit und wenig Schlaf. Bis heute ist es seine Fähigkeit, mit nur wenigen Stunden Ruhe große Distanzen zurücklegen zu können, mit der er Rennen oft schon früh für sich entscheidet. Beim Italy Divide 2019 schafft er es als Einziger im Spitzenfeld, die ersten beiden Nächte ohne Schlaf zu bestreiten – und bekommt von der italienischen Presse prompt den Spitznamen "L’uomo che non dorme" – "Der Mann, der niemals schläft". Beim Hope 1000 2019 in der Schweiz ruht er in vier Tagen weniger als 30 Minuten. Und beim Atlas Mountain Race 2019, dessen 1145 Kilometer er in weniger als vier Tagen zurücklegt, schläft er nur in der letzten Nacht – weil sein Vorsprung gegenüber der Konkurrenz uneinholbar groß ist. "Ich denke, es ist ein Mix aus Talent, Training und Erfahrung, der mir hier hilft", sagt Sofiane. "Ich weiß genau, wann ich eine Pause brauche. Aber ich trainiere diesen Aspekt auch. Manchmal fahre ich zum Beispiel in der Nacht." Rund 25 000 Kilometer legt er pro Saison zurück, auf Instagram postet er schon einmal Touren von 700 Kilometern und mehr. "Fürs Ultracycling ist eine hohe Grundfitness essenziell. Die hole ich mir zum Beispiel mit Bikepacking-Touren", erklärt der Franzose.

Bei seinen zahlreichen Erfolgen kommt es nicht von ungefähr, dass Sofiane heute Vollzeitprofi ist. Partner wie Komoot, Northwave und Shimano helfen ihm, seine Projekte zu verwirklichen. Dazu gehören nicht nur Rennen: 2022 will er beispielsweise den vom Deutschen Jonas Deichmann aufgestellten Rekord von Lissabon nach Wladiwostok – mehr als 13 000 Kilometer in 64 Tagen – unterbieten. Auch die Tour Divide will er in Zukunft gewinnen. "Mit 40 bin ich zwar nicht mehr der Jüngste, aber im Ultracycling kann man auch bis in die späten 40er erfolgreich sein – dementsprechend hoffe ich noch auf einige gute Ergebnisse", sagt er.

Danil Usmanov
2020 gewinnt Sehili das Atlas Mountain Race. Die 1145 Kilometer von Marrakesch bis nach Agadir legt er in gerade einmal drei Tagen, 21 Stunden und 50 Minuten zurück. Ein Durchschnitt von rund 300 Kilometern pro Tag – auf Schotter, wohlgemerkt.

Bei allen Ambitionen ist Sofiane aber eines wichtig – das betont er besonders: Der Reiz von Ultradistanzrennen – sich alleine allen Herausforderungen zu stellen, ohne Hilfe von außen, einsam in der Natur – stehe für ihn immer an oberster Stelle. Auch deshalb, erklärt er, sei das Silk Road Mountain Race mit seiner Abgeschiedenheit in der zentralasiatischen Bergwelt eines seiner Lieblingsrennen. Die letzten 200 Kilometer beim Silk Road Mountain Race 2021 genießt er daher besonders: Nach dem Kegetypass ist sein Vorsprung auf den Zweitplatzierten auf mehr als zehn Stunden angewachsen. Kilometer für Kilometer kämpft sich Sofiane auf den Schotterpisten voran. Das Ziel in Balykchy, einer Stadt am Nordufer des Yssykköl-Sees, erreicht er im Morgengrauen des nächsten Tages.

Sofianes Set-up

1. Je nach Strecke fahre ich mit einem klassischen Gravelbike oder einem Hardtail-MTB mit Starrgabel.

2. Bikes mit Federgabel sind für mich kein Tabu. Beim Ultracycling bedeutet Komfort Geschwindigkeit, daher kann es gut sein,dass ich in Zukunft mit Federgabel antrete.

3. Aero-Bars sind schnell, aber sie helfen mir auch, den Komfort zu erhöhen.

4. Ich verwende eine Vollrahmentasche, um den Platz, den das Rahmendreieck bietet, optimal zu nutzen.

5. Immer dabei ist auch eine Oberrohrtasche für meine Akkus, Kabel und Ladegeräte.

6. Essenziell sind warme Kleidung für kalte Nächte und wasserdichte Sachen für Regentage.

7. Man sollte sich auch über den Transport von Lebensmitteln und Wasser Gedanken machen.

8. Leichtes Packen ist wichtig. Aber am Ende ist Komfort wichtiger. Ansonsten hast du keinen Spaß!

Danil Usmanov
Aero-Lenker meets Stollenreifen: Sofiane Sehilis typisches Gravel-Set-up.
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Erscheinungsdatum 05.09.2023