Interview Joachim Marquardt
Joachim Marquardt: „Beim Graveln lernt man was fürs Leben“

Inhalt von

Familie, Beruf, Hobbys: Eigentlich ist Joachim Marquardt ein ganz normaler Typ von nebenan – bis er aufs Gravelbike steigt. Dann geht er bei den härtesten Bikepacking-Rennen an seine Grenzen. Und darüber hinaus. Hier erzählt er, warum.

Joachim Marquardt: „Beim Graveln lernt man was fürs Leben“
Foto: Joachim Marquardt

GRAVELBIKE: Joachim, kann man sagen, du bist leidenschaftlicher Gravelbiker und Bikepacker?

Joachim Marquardt: Definitiv, ich fahre seit vier Jahren fast ausschließlich Gravelbike. Ich wohne direkt am Wald – warum soll ich mich mit Autos herumschlagen, wenn ich auf Schotter meine Ruhe habe? Und Bikepacking ist für mich einfachdie intensivste Art des Reisens. Mit dem Rad bin ich schnell genug, um ordentlich Strecke zu machen, aber langsam genug, um Eindrücke und Erlebnisse zu sammeln. Ich liebe das Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Die Selbstbestimmtheit. Und ich liebe es, mich so intensiv in der Natur zu bewegen.

Joachim Marquardt
Joachim Marquardt, geboren 1963 in Herrenberg bei Stuttgart, ist liiert und hat zwei Töchter. Der DiplomBauingenieur ist Geschäftsführer eines Immobilienunternehmens und realisiert mit seinem Team Bauprojekte, vor allem ökologische und ressourcenschonende Wohnquartiere. Seit seiner Studienzeit ist Marquardt Radsportler.

Du bist auch schon bei vielen Wettkämpfen gestartet, hast oft deine Altersklasse gewonnen und allgemein vorne mitgemischt. Profi bist du aber nicht.

Nein, im Gegenteil, ich bin ein absoluter Normalo, kann man sagen. Frau, Kinder, Job, andere Hobbys... Natürlich lese ich auch gerne Artikel über die richtigen Freaks, die das Rad zum Lebensmittelpunkt gemacht haben, um die Welt fahren, tolle Sachen erleben und ihre Geschichte oft gut verkaufen. Tauschen möchte ich mit denen aber nicht, dafür bin ich auch im Beruf zu ehrgeizig.

Deine Geschichten sind aber auch nicht alltäglich und zeigen, was ein Normalo erreichen kann.

Ja, vielleicht. Das Krasseste, was ich bislang gemacht habe, war wohl Badlands. Das ist ein 750 Kilometer langes unsupported Gravelrennen in Andalusien, bei dem man von Granada aus die Sierra Nevada umrundet, über 16000 Höhenmeter klettert und durch zwei Wüsten fährt. Unglaublich, dass es solche atemberaubenden, einsamen Landschaften in Europa gibt!

Badlands
Staub und Schotter, so weit das Auge blickt: Das unsupported Gravel-Rennen Badlands führt über 750 Kilometer und 16 000 Höhenmeter durch die Hitze Andalusiens – einmal rund um die Sierra Nevada, durch zwei Wüsten. Von 239 Angemeldeten im Jahr 2021 erreichten 116 das Ziel.

Wofür stehen supported und unsupported?

Als supported gelten Events, bei denen externe Hilfe dabei ist. Zum Beispiel Verpflegungsstellen, technischer Service, Begleitfahrzeuge, Ersatzmaterial. Aber auch alle Veranstaltungen, wo man selbst für eine Crew sorgt, die einen betreut, also Langstreckenwettkämpfe wie Race Across the Alps, Race Across America und so weiter. Unsupported darf man keine Hilfe annehmen, muss Defekte selbst reparieren, Verpflegung selbst besorgen, darf nicht Windschatten fahren etc. Auf der Straße sind das Langstreckenevents wie Transcontinental Race oder Three Peaks Challenge, bekannte Bikepacking Gravelrennen sind etwa Italy Divide, das Silk Mountain Race in Kirgisistan oder eben Badlands.

Du bist dort 2021 gestartet. Wie hast du das Rennen erlebt?

Als Grenzerfahrung. Man fährt als Erstes durch die Gorafe-Wüste. Tagsüber waren es dort 45 Grad Celsius. Ich hatte zwar vier Wasserflaschen dabei, aber das ist bei solchen Bedingungen nicht viel, wenn man nicht auffüllen kann. Der Veranstalter hatte zwar gesagt, dass es wenige Wasserstellen gibt, aber dass es so krass ist, hätte ich nicht gedacht. Ich habe irgendwann Wasser nur noch in den Mund genommen, aber nicht runtergeschluckt. Das senkt das Trinkbedürfnis. Trotzdem war ich einer der ersten, der schlafen musste, schon um Mitternacht.

Wann ging das Rennen los?

Morgens um sieben.

Wie hast du dich im Rennverlauf, auch in der dann folgenden Tabernas-Wüste versorgt?

Über die wenigen Wasserstellen, an denen man nachts aber auch gerne mal vorbeifährt. Und immer, wenn irgendwo an einem Haus ein Hund bellte, habe ich dort so lange geklopft, bis jemand öffnete, weil der Hund ja nicht alleine in der Einöde leben wird. Einmal, auf einer Passhöhe, war eine Filmcrew, die das Rennen dokumentierte. Ich hatte gar nichts mehr und hab die regelrecht ausgeplündert.

Joachim Marquardt
Andere Teilnehmer in Reichweite - selten genug bei großen Ultradistanzrennen.

Wie ging das Rennen weiter?

Zwischen den beiden Wüsten ging es durch einen Wald, das war natürlich herrlich. Auch für den Kopf, denn wenn du zehn Stunden in sengender Hitze durch die Wüste fährst, wirst du trotz gigantischer Landschaft kirre. Später musste man durch Almería – auch herausfordernd! Man ist total fertig und hat auf einmal die Hektik und den Verkehr einer Großstadt. Am Strand entlang lief’s wieder ganz gut.

Konnte man immer fahren?

Meistens. Manchmal waren in der Wüste oder am Strand der Sand zu tief oder Steine zu groß. Mal ’ne halbe Stunde schieben. Alles nicht so schlimm.

Badlands
2021 erreichten bei Badlands von 239 Angemeldeten im Jahr 2021 "nur" 116 das Ziel.

Wie hat dein Körper reagiert?

Schwierig. In der dritten Nacht ging es mir richtig schlecht. Und am folgenden Tag dachte ich, ich halluziniere. Ich fahre einen Berg hoch, da ruft es plötzlich hinter mir: "Hola!" Ich schaue mich um, sehe aber niemanden. Also fahre ich weiter, aber da ertönt noch mal, etwas lauter: "Hola!" Ich steig ab, guck mich um, da sehe ich: Hinter einem Felsblock hatte sich ein Teilnehmer im Schatten ausgestreckt. David aus Barcelona, der war völlig am Ende, hatte überhaupt nichts mehr zu trinken. Ich habe ihm den Trick verraten mit dem Schluck Wasser im Mund und hab ihm was gegeben, war aber selbst fast blank. Ich hab ihm gesagt: "David, du musst hier weg, du musst weiter."

Hat er es geschafft?

Ja, wir sind zusammen weitergefahren, aber am nächsten Berg fiel er zurück. Wir wussten aber, dass in 15 Kilometern ein Dorf kommt mit einem Restaurant. Ich bin vorgefahren, und die haben mir auch Wasser gegeben, aber gesagt, die Küche ist schon zu, da ließen die nicht mit sich reden. Kann ich sogar verstehen – da kommt wer mit zentimeterdicker Schmierschicht aus Sonnencreme und Staub am ganzen Körper, Schweißrändern an den Klamotten, völlig eingesaut … Doch dann war wenig später tatsächlich David da, komplett auf dem Zahnfleisch, und konnte auf Spanisch mit denen reden. Da wurde es kurzzeitig sehr laut, aber dann wurde tatsächlich für uns gekocht. Linseneintopf mit Kartoffeln, eine regionale Spezialität, das werde ich in meinem Leben nicht vergessen!

Joachim Marquardt
Nach Hunderten Kilometern im Sattel, hungrig, erschöpft, verstaubt, können eine Isomatte und ein Schlafsack am Strand wie eine Fünf-Sterne-Unterkunft erscheinen.

Ging’s da noch um Platzierungen im Rennen?

Für mich nicht mehr, ich war zu dem Zeitpunkt 18. von ungefähr 250, die angemeldet waren. In der letzten Nacht ging bei mir noch das Licht kaputt – Akku leer. Also musste ich die Stirnlampe rausholen, aber damit kannst du im Stockfinsteren nicht schnell fahren. Bergab musste ich schieben. Ich hab gewartet, bis es halbwegs dämmrig wurde, dann weiter. Nach knapp 76 Stunden war ich im Ziel, meine Altersklasse Ü50 habe ich gewonnen, da gibt es aber auch nicht so viel Konkurrenz.

Das sind ja echte Grenzerfahrungen. Warum begibt man sich freiwillig in solche Situationen?

Also, zunächst mal war es schon außergewöhnlich heiß, das haben auch die Veranstalter gesagt. Aber ja, du hast da oft keinen Handyempfang, bist auf dich selbst angewiesen oder kleine gegenseitige Unterstützung wie bei David und mir. Wenn man Pech hat oder unglückliche Umstände zusammenkommen, kann es schon wirklich gefährlich werden. Warum macht man das? Das fragt mich jeder. Wenn du so was mal erlebt hast, verstehst du es. Das sind so starke Gefühle, man geht wirklich an seine Grenzen und verschiebt sie. Mich fasziniert es, aus unserem perfekt organisierten, komfortablen Leben auszubrechen und selbstständig die elementaren Grundbedürfnisse erfüllen zu müssen. Man ist da phasenweise nicht mehr man selbst. Aber die Zufriedenheit, der Stolz, die Endorphine, wenn du es geschafft hast, das kann man nicht beschreiben. Ich bin überzeugt, dass mich das als Mensch verändert, stärker macht, auch im Berufsleben.

Wird das zur Sucht?

Das klingt negativ, aber ein bisschen ist es vielleicht so. Ich bin das Race Across the Alps gefahren, das Race Across Germany, 1000 Kilometer im strömenden Regen, das Race Around Austria und zuletzt eben unsupported Gravel-Rennen wie Badlands oder das GranGuanche auf den Kanarischen Inseln. Ich brauche jedes Jahr eine große Herausforderung, sonst habe ich das Gefühl, das Jahr ist ein verlorenes. Mein nächstes Ziel ist das Atlas Mountain Race in Marokko.

Joachim Marquardt
Joachim Marquardt bei GranGuanche auf den Kanarischen Inseln.

Wie schafft man das als Normalo?

Die Frage ist, wie taktest du dich ein? Der Tag hat nur 24 Stunden. Ich trainiere zum Beispiel gezielt Intervalle nach Trainingsplan. Anderthalb, zwei Stunden, nicht länger. Das ist verträglich für Familie und Beruf. Und ich sitze auch schon mal um fünf Uhr morgens auf dem Gravelbike – so bleibt viel vom Tag und ich erlebe den Sonnenaufgang, die erwachende Natur auf dem Rad. Oder man verbindet Dinge miteinander: In unseren diesjährigen Sommerurlaub in Italien bin ich mit Rad und Gepäck durch die Alpen gefahren, die Familie kam später nach, wir haben uns am Zielort getroffen. Gegenseitige Rücksichtnahme und Verständnis sind wichtig, aber auch Hingabe und Disziplin bei einem selbst.

Welche Fehler beim Bikepacking, die du gemacht hast, können sich andere ersparen?

Entscheidend ist, die eigene Reise oder das anstehende Rennen gut zu durchdenken und zu planen. Eine Verpflegungsstrategie ist ganz wichtig! Wo fahre ich, wie versorge ich mich? Die Packliste akribisch zusammenstellen: Was brauche ich wirklich, was nicht? Das Rad vorab checken, um Defekten vorzubeugen. Vorbereitet sein auf viele Szenarien, ohne eine halbe Werkstatt mitzuschleppen. Es hängt auch immer vom Einsatzgebiet ab – fahre ich in dicht besiedelter Gegend mit Infrastruktur oder durch die Pampa? Das ganze Set-up vor dem Wettkampf ausgiebig testen. Wirklich gut ausgeruht mit vollen Energiespeichern starten. Und: sich darauf einstellen, dass alles anders kommt als geplant und man ohnehin improvisieren muss. Aber ich bin überzeugt: Man lernt was fürs Leben!

Die aktuelle Ausgabe
01 / 2024
 01  / 2024

Erscheinungsdatum 03.09.2024