Nerd-Talk: Federung am Gravelbike
Federung am Gravelbike: Das Klügere gibt nach

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Immer mehr Gravelbikes kommen mit Federungssystemen – sinnvoller Dämpfungskomfort oder Teufelszeug? Wir haben uns mit Technikfreaks aus der Branche unterhalten.

Federung am Gravelbike: Das Klügere gibt nach
Foto: Rock Shox

Die Nerds im GRAVELBIKE-Talk:

  • Yannick Mayer, SRAM
  • Lisa Wolf, BMC
  • Christian Köhr, Specialized

GRAVELBIKE: Eine Federung am Rennrad – vielen Traditionalisten geht da der Hut hoch. Warum sind Federungssysteme beim Graveln eurer Meinung nach sinnvoll?

Lisa: Auch im Rennradbereich hat man die Vorteile erkannt, die Dämpfungskomfort bietet. Aber klar, das Gravelbike ist noch vergleichsweise neu, und damit ist auch die Bereitschaft größer, neue Sachen auszuprobieren, auch unkonventionelle – wie eben Federungssysteme. Sie schwächen Erschütterungen ab, machen das Fahren ein bisschen angenehmer und beugen Ermüdung vor. Außerdem erhöhen sie die Traktion – für mehr Kontrolle, mehr Sicherheit, mehr Spaß. Und ein Federelement bügelt auch schon mal Fahrfehler aus…

privat
Lisa Wolf - Mit besonderer Vorliebe rast die PR-Managerin des Radherstellers BMC über die Mountainbike-Trails des Schweizer Jura. Entsprechend gering sind ihre Berührungsängste gegenüber Federungssystemen – auch am Gravelbike.

Yannick: Das große Reizthema ist für manche die Abgrenzung zum Mountainbike, da hört man übers Gravelbike manchmal: "Jetzt noch einen geraden Lenker dran und wir haben ein Twentyniner-Mountainbike …" Fakt ist: Wer lange auf Schotter, Waldund Wiesenwegen fährt oder auf Trails über Wurzeln und Steine rumpelt, steckt viele Schläge ein – und das merken sich Rücken, Arme und Nacken. Ein richtiges, sauber ansprechendes Federelement, das Unebenheiten vom ersten Millimeter wegbügelt, bietet da einfach Vorteile. Aber wir verstehen auch die Traditionalisten, die sagen, sie wollen nichts, das weich ist, das wippt, das schwer ist. Zur Beruhigung: Nicht alle Gravelbikes kommen mit Federelementen – und das werden sie auch in Zukunft nicht.

Chris: Den typischen Graveller oder die typische Gravellerin gibt es noch gar nicht – und auch nicht die eine richtige Art zu Graveln. Manche kommen aus dem Road-Bereich, andere vom Mountainbike. Und für viele ist das Graveln überhaupt der erste Kontakt zum Radsport, quasi die "Einstiegsdroge". Entsprechend unvoreingenommen gehen sie an die Sache ran, pfeifen auf die alten Grabenkämpfe und profitieren einfach von den Vorteilen der Dämpfung.

Wie sehen eure technischen Lösungen für mehr Federkomfort konkret aus?

Lisa: Bei BMC setzen wir bei unserem Gravelbike URS seit der ersten Generation auf die Micro Travel Technology, ein unauffälliges Federelement am Hinterbau, das die Sitzstreben vom Hauptrahmen abkoppelt. Das erhöht die Traktion und auch die Dämpfung, Schläge vom Untergrund werden so abgesoftet statt ungefiltert beim Fahrer oder der Fahrerin anzukommen. Das ganz neue URS LT kommt zusätzlich mit einer MTT-Gabel, die oben am Gabelkopf ein Federelement integriert. Beide Federungen – sowohl vorne als auch hinten – fallen optisch kaum auf, die vordere kann man auch blockieren.

Das neue URS LT von BMC
BMC / David Schultheiß
BMC Urs LTD mit Front- und Heckdämpfung

Chris: Unser System nennt sich FutureShock und sitzt oben am Vorbau. Es entkoppelt quasi den Lenker von den Schlägen des Untergrunds – diese wirken ja nach oben, werden aber auf ihrem Weg von einer Feder im Inneren der Gabel aufgefangen. Eine sehr cleane Lösung, weil man von außen tatsächlich überhaupt nichts sieht. Und blockieren kann man die Federung auch. Erstmals hat Specialized die Technologie an den Endurance-Rennrädern Roubaix und Ruby verbaut, inzwischen ist das System ab einer gewissen Ausstattung auch Standard bei unserem Gravelbike Diverge. Und mit unserer Heckfederung am 2023er Diverge sind wir noch einen Schritt weitergegangen.

Yannick: Okay, jetzt komme ich mit meiner Mountainbike-Technologie … Sram hat spezielle Gravel-Komponenten im Programm, die alle den Zusatz XPLR im Namen tragen, kurz für explore, englisch für erkunden. Komfort und Traktion bringen vor allem die Federgabel Rudy XPLR und der Laufradsatz 101 XPLR von unseren Tochterfirmen RockShox und Zipp. Die Rudy ist eine klassische Luftfedergabel mit allen Vor- und Nachteilen, also tolle Federung einerseits, andererseits etwas mehr Gewicht und der Federgabel-Look. Die Laufräder kommen mit der sogenannten Moto-Technologie – das ist ein einwandiges Felgendesign, das bewirkt, dass auf ruppigem Untergrund quasi die Felge nachgibt und immer parallel zum Boden steht statt auszubrechen.

Wie viel Federweg kann man damit jeweils rausholen?

Lisa: Bei uns sind es 20 Millimeter.

Chris: Bei uns ebenfalls an der Front und 30 Millimeter am Heck des neuen Diverge.

Specialized Diverge STR 2023 Details
Specialized/Etienne Schoeman
Rear FutureShock von Specialized am neuen Diverge 2023.

Yannick: Je nachdem, welche der zwei verfügbaren Federgabeln man nimmt, sind es 30 oder 40 mm, natürlich ebenfalls auf Wunsch blockierbar. Bei den Laufrädern kann man das nicht in Federweg bemessen, sondern "nur" spüren – während der Fahrt.

Und wie viel Mehrgewicht handelt man sich dadurch ein?

Yannick: Die RockShox Rudy-Federgabel wiegt 700 bis 800 Gramm mehr als eine übliche Gravel-Starrgabel, der Zipp 101 XPLRLaufradsatz wiegt 1620 Gramm – das ist konkurrenzfähig und eher ein funktionaler Unterschied als ein Mehrgewicht gegenüber Wettbewerbern.

Chris: Mit FutureShock wiegt ein Gravelbike 351 Gramm mehr als mit klassischer Gabel-Vorbau-Kombination.

Lisa: Die hintere Federung ist beim URS-Gravelbike immer dabei, in Größe M wiegt das Topmodell 8,7 Kilogramm. Ein URS LT mit MTT-Gabel wiegt 700 Gramm mehr.

Viel Holz, wenn man bedenkt, wie viel Spaß ein federleichtes Bike macht.

Lisa: Einerseits ja, andererseits ergeben sich so ja auch neue Chancen: Ein vielseitiges Gravelbike – mit dem Vortrieb eines Rennrads, aber den Möglichkeiten eines Mountainbikes – macht womöglich ohne große Abstriche aus zwei oder drei Fahrrädern, die im Keller stehen, eins – auch eine Kostenfrage.

Chris: Und dass es das eine gibt, heißt nicht, dass das andere nicht mehr angeboten wird. Bei Specialized ist zum Beispiel das Diverge das Gravel-Modell mit Federelementen. Wenn ich es aber lieber richtig krachen lasse, wenn ich der Wettkampftyp bin, dann nehme ich einfach das ungefederte Crux, das nur knapp über sieben Kilogramm wiegt.

Yannick: Ich würde bei euch sogar noch das Roubaix als Endurance-Straßenmodell nennen, von dem die FutureShock-Federung ursprünglich kommt, und das man mit etwas breiteren Reifen ja auch offroad fahren kann. Insofern stellt sich die Frage, wie viel Gravel-Potenzial heutzutage schon viele Langstreckenstraßenrennräder bieten. Und man sollte nicht vergessen: Die Nutzerinnen und Nutzer, die beim Straßenrad schon gute Erfahrungen mit Federelementen gesammelt haben, werden beim Gravelbike nicht darauf verzichten wollen.

YT  Szepter Gravel Bike mit Federgabel
YT Industries / Rupert Fowler
RockShox Rudy-Federgabel, hier am neuen YT Industries Szepter.

Gibt es weitere Fahrertypen, die prädestiniert sind für solche Federsysteme, und andere, denen ihr von vornherein davon abraten würdet?

Yannick: Ich sehe auch diejenigen als potenzielle Nutzer, die gerne neue Wege erkunden, die Abenteurer, die am Anfang ihrer Tour nicht wissen, auf was für einen Untergrund sie treffen werden. Gerade wenn es etwas gröber wird und man plötzlich oben an einem Singletrail steht, kann eine Federgabel schon das Zünglein an der Waage sein, ob man da runterfährt oder schiebt. Auch Bikepacker profitieren sehr stark davon, wenn sich ihr voll beladenes Bike etwas nachgiebiger zeigt.

Chris: Am Ende sollte man es vielleicht einfach mal ausprobieren und dabei in sich reinhorchen: Wie fahre ich, wie fahre ich nicht? Und dann überlegen, ob zum eigenen Anwendungsbereich ein Federungssystem passt oder nicht.

Specialized
Christian Köhr - Ob Fußball-Fan Chris wegen Dämpfungskomfort und Federelementen das knochenbrechende runde Leder gegen Rennrad und Gravelbike tauschte, ist nicht überliefert. Bei Specialized fungiert der Triathlet aber inzwischen als Category Lead Road & Gravel.

Wo kann man so was denn einfach mal ausprobieren?

Lisa: BMC ist auf vielen Testevents vertreten, wir haben da immer unsere Roadmachine, unser URS und unser URS LT dabei, damit die Leute alle Optionen im direkten Vergleich fahren können. Und wir haben unser Händlernetz, das wir regelmäßig schulen und erweitern. Übrigens: Beim MOUNTAINBIKE TESTIVAL in Brixen waren auch sehr viele Gravelbikes vor Ort!

Chris: Dem kann ich nur beipflichten. Fachhändler, Festival, Testevents, exklusive Gravel-Camps – es gibt viele Möglichkeiten, Dinge einfach mal auszuprobieren. Uns fällt aber zunehmend auf, dass viele Kunden durchs Internet, durch Fachmagazine oder durch YouTube-Videos schon sehr genaue Vorstellungen haben, was sie wollen – und was nicht.

Yannick: Unser Schicksal als Komponentenhersteller ist: Wir sind entweder am Rad dran oder nicht. Aber bei Festivals haben wir natürlich auch eine eigene Testflotte dabei, egal ob beim Bohemian Border Bash, bei Nature is Bike in Frankreich oder beim schon erwähnten MOUNTAINBIKE TESTIVAL in Brixen ist. Das Tolle: Vor Ort kann man Aha-Effekte erzeugen bei denjenigen, die Federungssysteme noch nie ausprobiert haben, und tolle Feedbackgespräche mit den Leuten führen, die sich gut auskennen.

Was sind die Herausforderungen bei der Entwicklung von Dämpfungssystemen?

Yannick: Ein möglichst breites Spektrum abzudecken. Die Rudy-Federgabel soll bei sehr straßenlastigem Commuting, wo man nur mal den Bordstein hochfährt, ebenso funktionieren wie auf dem Singletrail. Sauberes und feines Ansprechverhalten einerseits, aber auch Durchschlagsicherheit andererseits. Auffällig ist: Bei allen Systemen, über die wir hier reden, geht es um wirkliche Federelemente, also nicht nur Elastomere oder Lauf-Gabeln oder so etwas. Da steckt richtig Technologie drin.

Lisa: Gleichzeitig gilt es abzuwägen: Wie viel kann ich über die Geometrie rausholen, die ja auch viel Potenzial bietet für Sitzund Fahrkomfort, Handling und Sicherheit. Als Radhersteller muss man auch schauen: Nicht in jedes Rahmen-Set passt zum Beispiel eine Gravel-Federgabel rein.

Sind Federungssysteme auch ein Preisfaktor?

Chris: Natürlich. Fahrräder sind zuletzt immer teurer geworden, natürlich auch Gravelbikes. Und es wird umso teurer, je mehr Features drinstecken – egal ob das jetzt elektronische Schaltungen, schicke Laufräder oder eben Federungssysteme sind. Früher hatte man ja vielleicht noch ein schnelles Wettkampfrennrad, ein Trainingsrad und ein Trail-Mountainbike – bei den heutigen Preisen leisten sich das nicht alle. Da ist das Gravelbike – Lisa hat es eben schon mal angedeutet – als das eine Rad, das sehr viel sehr gut kann, auch eine Kostenfrage.

Eine Henne-Ei-Frage: Wurde das ganze Thema Dämpfungskomfort eher von den Kunden gefordert oder von den Herstellern forciert?

Lisa: Ich glaube, bei uns kann man sagen, dass wir weiter vorangehen wollten.

Yannick: Bei den RockShox-Entwicklern hieß es ebenfalls: "Der Endkunde weiß noch gar nicht, dass er das Produkt haben will – aber wenn wir es ihm anbieten, will er es auch." Und so ist es auch gekommen.

privat
Yannick Mayer - Wenn er im Winter neben Mathieu van der Poel am Start von UCI-Crossrennen steht, hat sein Renner alles – bloß keine Federung. Wenn er im Sommer über seine Lieblingstrails rumpelt, freut sich der Sram Brand Specialist hingegen über jeden Millimeter Federweg.

Chris: Bei uns kommt das FutureShockSystem ja aus dem Straßenbereich, vom Modell Roubaix, mit Kopfsteinpflaster und schlechter Straße im Hinterkopf. Einerseits haben wir gesagt, wir adaptieren das für unsere Gravelbikes, andererseits haben uns Kunden zurückgemeldet, sie hätten offroad mit breiteren Reifen gute Erfahrungen gemacht. Es waren also beide Seiten.

Wenn wir in die Zukunft blicken: Wo geht beim Gravelbike die Reise in puncto Federungssysteme hin?

Yannick: In nächster Zeit ist von uns nichts Neues zu erwarten, sondern erst mal das Erfüllen von Lieferverpflichtungen – derzeit ja ein durchaus brisantes Thema. Mehr Federweg ist denkbar, aber es gilt auch, den Abstand zum Mountainbike zu wahren. Der Hersteller Niner hat ein Gravel-Fully auf den Markt gebracht – wir werden beobachten, ob das angenommen wird. Allgemein gilt: Welches Feedback kommt von welcher Seite? Wir sind offen für vieles.

Chris: Das ist bei uns sehr ähnlich: Wir beobachten aufmerksam den Markt und die Angebote unserer Mitbewerber. Weiterentwicklung der FutureShock oder eigene Neuentwicklungen im Bereich Suspension – vieles ist denkbar, es wird auf jeden Fall nicht langweilig.

Lisa: Bei uns ist das URS LT mit Frontfederung noch recht frisch am Markt, technisch ist das Ende der Fahnenstange aber mit Sicherheit noch nicht erreicht. Andererseits entwickeln wir natürlich nicht nur für uns, sondern für den Endkunden. Sprich: Es müssen Lösungen sein, die dann auch gekauft werden und wirtschaftlich sind. Klar ist aber, dass es immer auch einen Markt für ungefederte Modelle geben wird. Insofern kann man das ganze Thema Federung eher als Bereicherung sehen und als zusätzliche Option. Nicht als Teufelszeug.

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Erscheinungsdatum 03.09.2024